Danke für gar nichts! – Wut auf toxische Eltern im Erwachsenenalter 😤
✔ fachlich geprüft von Riccardo Frink
„Hast du eine Ahnung, was ich alles für dich geopfert habe?!“, „Du bist so undankbar!“, „Du hattest doch alles, was du brauchtest!“ – schon mal gehört? Dann bist du nicht allein! Solche und ähnliche Sätze hören viele Erwachsene, die ihre Eltern mit ihrer Wut über die Erlebnisse aus der Kindheit konfrontieren. Du versuchst, eine ehrliche Aussprache zu führen, doch deine Eltern mauern, manipulieren mit Schuldgefühlen oder ignorieren deine Vorwürfe? Das kann frustrierend sein, wütend machen und deine Beziehung zu Partnern und eigenen Kindern stark beeinflussen.
In diesem Artikel erklären wir, wie du toxisches Verhalten von Eltern erkennst und zeigen dir, wie solche Erfahrungen deine Partnerschaft und dein Familienleben beeinflussen. Außerdem erfährst du, wie du konstruktiv mit deiner Wut umgehen kannst – und wie du es bei deinen eigenen Kindern besser machen kannst.
Lesezeit 15 min
Du bist nicht schuld!
Erwachsene, die in ihrer Kindheit vernachlässigt wurden, haben oft das Gefühl, selbst schuld, falsch oder nicht liebenswert zu sein. Das Selbstwertgefühl leidet, und es kann sich bis ins Erwachsenenalter nicht richtig entwickeln [1]. Die Folgen sind häufig die Übernahme ähnlicher Verhaltensmuster oder destruktive Gedanken und Handlungen. Auch Sucht [2], Depressionen oder Gewalt können eine Folge von Vernachlässigung in der Kindheit sein [3].
Wenn du von Vernachlässigung betroffen bist, ist es wichtig, dir klarzumachen: Du trägst keine Schuld am negativen Verhalten deiner Eltern. Du hattest, wie alle Kinder, das Recht darauf, bedingungslos geliebt und liebevoll versorgt zu werden. Vernachlässigung ist die Verantwortung der Eltern – ganz egal, wie herausfordernd deren Leben zu der Zeit war.
Merke dir also: Du bist nicht falsch! Du kannst nichts dafür!
Tipp: Fällt es dir schwer, deine Gefühle erst zunehmen? Probiere es mit diesem Trick: Stell dir vor, du würdest dich deinen eigenen Kindern gegenüber so verhalten, wie deine Eltern es bei dir getan haben. Versetze dich dann in die Lage deiner Kinder und spüre die Gefühle, die in dir aufkommen. Da kann dir dabei helfen mehr Selbstmitgefühl zu bekommen.
Erziehung in der Kindheit – Folgen für den Erwachsenen
Die Erziehungsstile und -fehler der Eltern haben einen tiefgreifenden Einfluss auf das spätere Familienleben und die Partnerschaften im Erwachsenenalter [3]. Wie wir als Kinder geliebt, unterstützt oder kritisiert wurden, prägt unser Selbstbild, unsere emotionalen Reaktionen und die Art, wie wir Beziehungen führen [3].
Autoritäre Erziehung
Gefühle werden unterdrückt oder nicht ernst genommen: Wenn Eltern die Emotionen ihres Kindes ignorieren oder abwerten – zum Beispiel durch Sätze wie „Stell dich nicht so an“ oder „Hör auf zu weinen, das ist doch nichts“ – lernt das Kind, dass seine Gefühle unwichtig oder unangemessen sind [4]. Dies führt dazu, dass es anfängt, seine Emotionen zu unterdrücken, anstatt sie auszudrücken. Das Kind entwickelt möglicherweise die Überzeugung, dass es seine Emotionen verstecken muss, um akzeptiert zu werden, und beginnt, sich emotional von anderen zurückzuziehen [4].
Folge: Im Erwachsenenalter kann diese emotionale Unterdrückung dazu führen, dass du Schwierigkeiten hast, deine eigenen Gefühle zu erkennen und auszudrücken [5]. Dies macht es besonders schwer, dich in Partnerschaften zu öffnen und eine tiefe, emotionale Verbindung einzugehen. Die Folge kann ein geringes Selbstwertgefühl [6] sein, da du nie gelernt hast, deine Emotionen als legitim und wertvoll anzuerkennen. Dies zeigt sich in Beziehungen oft als übermäßige Abhängigkeit von anderen oder als starke Bindungsangst – du hast entweder das Gefühl, ohne Bestätigung von außen nicht genug zu sein, oder du fürchtest, durch emotionale Nähe verletzt zu werden [7].
Fehlende emotionale Unterstützung
Wenn ein Kind nicht ausreichend durch die verschiedenen Entwicklungsphasen begleitet wird, fühlt es sich oft emotional allein gelassen [5]. Beispielsweise, wenn Eltern auf die Sorgen oder Bedürfnisse ihres Kindes nicht eingehen, lernt das Kind, seine Gefühle zu unterdrücken oder nicht ernst zu nehmen. Es entsteht das Gefühl, auf sich selbst gestellt zu sein, ohne einen emotionalen Anker in den Eltern zu haben [5].
Folge: Im Erwachsenenalter kann dieses Verhalten der Eltern dazu führen, dass du Schwierigkeiten hast, emotionale Bindungen einzugehen. Du spürst eine innere Unsicherheit und empfindest oft emotionale Distanz – sowohl zu anderen Menschen als auch zu dir selbst. Dadurch fällt es schwer, in Beziehungen Vertrauen zu entwickeln und tiefe Verbindungen einzugehen [5].
Übermäßige Kontrolle
Wenn Eltern übermäßig kontrollierend sind, bestimmen sie jede Entscheidung des Kindes und lassen wenig Raum für Selbstentfaltung [8]. Dies fördert entweder eine starke Abhängigkeit des Kindes, da es sich nie traut, eigene Entscheidungen zu treffen, oder es entwickelt eine rebellische Haltung, um sich der ständigen Kontrolle zu entziehen.
Folge: Die ständige Kontrolle in der Kindheit kann dazu führen, dass du als Erwachsener entweder unsicher bist und dich stark auf andere verlässt oder dass du ein starkes Bedürfnis nach Unabhängigkeit verspürst, was in extremem Misstrauen und Schwierigkeiten, Kompromisse einzugehen, enden kann. In Beziehungen könnte es dazu kommen, dass du dich schnell eingeengt fühlst oder Angst hast, abhängig zu sein [8].
Diese Erziehungserfahrungen beeinflussen nicht nur unser Verhalten in Beziehungen, sondern auch, wie wir Konflikte lösen, mit Stress umgehen und Fürsorge zeigen. Das Verständnis dieser Zusammenhänge ist entscheidend, um sich von negativen Mustern zu lösen und eine gesunde, erfüllte Partnerschaft sowie ein stabiles Familienleben zu führen.
Das Wohl von Kindern rückte erst spät in den Fokus der Gesellschaft. Bis in die 1960er Jahre war das Schlagen von Kindern in Deutschland weitgehend akzeptiert, der Rohrstock gängige Praxis. Die Prügelstrafe wurde 1973 abgeschafft, in Bayern erst 1980. Das Recht auf gewaltfreie Erziehung wurde 2000 im § 1631 BGB verankert. 2008 forderten die Bundeskanzlerin und die Länderchefs eine Kultur des Hinsehens und stärkten die gemeinsame Verantwortung für den Kinderschutz [10].
Toxische Eltern besser verstehen – der Weg zur Selbstakzeptanz
Deine Eltern haben sich in deiner Kindheit nicht gut verhalten, und bis heute spürst du Wut, Groll und Trauer darüber. Was dir bei der Verarbeitung helfen kann, ist ein Perspektivwechsel. Stell dir vor, du hättest nicht das Wissen, das du heute hast. Stell dir vor, es wäre völlig normal gewesen, die Wünsche und Bedürfnisse von Kindern nicht ernst zu nehmen. Frage dich: Ist es möglich, dass diese Erkenntnisse damals noch nicht vorhanden waren? Dass deine Eltern davon abgehalten wurden, auf ihr Bauchgefühl zu hören? Oder dass sie selbst noch mit den Folgen des Krieges und den damit verbundenen Traumata zu kämpfen hatten?
Dieser Perspektivwechsel kann dir helfen, eine erwachsene Sichtweise einzunehmen. Nicht, um das, was dir passiert ist, zu entschuldigen, sondern um dir klarzumachen: Es liegt nicht an dir! In der Zeit, als deine Eltern selbst Kinder waren, herrschten noch ganz andere Erziehungsnormen und Umgangsformen.
Wohin mit deiner Wut?
Wenn Eltern blockieren, deine Kritik nicht ernst nehmen, deine Gefühle klein machen oder bereits verstorben sind, fehlt dir oft die Möglichkeit, deine Wut direkt an sie zu richten. Aber es gibt Wege, mit dieser Wut umzugehen und sie sinnvoll zu verarbeiten. Hier sind konkrete, umsetzbare Vorschläge:
Schreib es auf 📝: Verfasse Briefe an deine Eltern (die du nicht abschicken musst), um all deine Gedanken und Gefühle niederzuschreiben. So kannst du den inneren Druck abbauen und Klarheit über deine Emotionen gewinnen.
Therapie in Anspruch nehmen 🧠: Eine professionelle Therapie, insbesondere Trauma- oder Gesprächstherapie, kann dir helfen, deine Wut zu verarbeiten und die Verletzungen aus deiner Kindheit aufzuarbeiten.
Körperliche Aktivitäten 🏃♀️: Setze deine Wut in Bewegung um – Sportarten wie Boxen, Laufen oder Tanzen können dabei helfen, angestaute Energie abzubauen und dich emotional zu befreien.
Gesunde Ventile schaffen 🎨: Finde kreative Ausdrucksformen wie Malen, Musizieren oder Schreiben, um deinen Gefühlen Raum zu geben, ohne sie zu unterdrücken.
Gespräche mit vertrauten Personen 👥: Teile deine Gefühle mit engen Freunden oder einem Partner. Auch wenn sie nicht direkt betroffen sind, kann das Aussprechen der Emotionen Erleichterung verschaffen.
Atem- und Entspannungstechniken 🧘♂️: Meditation oder Atemübungen helfen dir, im Moment präsent zu sein und deine Wut bewusst wahrzunehmen, ohne von ihr überwältigt zu werden.
Sich informieren 📚: Nutze Selbsthilfebücher oder Workshops, die sich mit der Aufarbeitung von Kindheitstraumata und Wut befassen, um tiefer in deine Emotionen einzutauchen und sie zu verstehen.
Jeder dieser Schritte kann dir helfen, einen Weg zu finden, mit deiner Wut umzugehen und sie loszulassen, auch wenn du sie nicht direkt an die verursachenden Personen adressieren kannst.
So machst du es besser – Tipps für den Alltag mit Kindern
Fehler in der Erziehung, wie fehlende emotionale Unterstützung oder übermäßige Kontrolle unserer Eltern, können dazu führen, dass wir unbewusst ähnliche Muster an unsere eigenen Kinder weitergeben [11].
Wenn es um körperliche Gewalt geht, wird oft über den sogenannten „Kreislauf der Gewalt“ gesprochen [6]. Das bedeutet, dass Eltern, die selbst als Kinder oder Jugendliche Gewalt erlebt haben, ein höheres Risiko haben, ihre eigenen Kinder ebenfalls gewalttätig zu erziehen. Zum Beispiel kann ein Vater, der in seiner Kindheit oft geschlagen wurde, später in stressigen Situationen eher dazu neigen, seine eigenen Kinder zu schlagen, weil er es so gelernt hat.
Um aus dem Kreislauf der Gewalt auszusteigen, ist es wichtig, bewusst zu handeln und gezielt an der eigenen emotionalen und mentalen Gesundheit zu arbeiten. Hier sind einige Schritte, die dir dabei helfen können:
Gewaltberatungsstellen kontaktieren 📞: Auf der UNICEF-Seite findet eine große Auswahl an Beratungsangeboten zum Thema Gewalt.
Therapie in Anspruch nehmen 🧑⚕️: Professionelle Unterstützung, wie eine Gesprächstherapie oder Traumatherapie, kann helfen, tief verwurzelte Muster zu erkennen und zu durchbrechen. Therapeuten können Werkzeuge anbieten, um mit Stress und starken Emotionen anders umzugehen.
Psychologische Beratung hilft 📱: Unsere Psychologinnen von AllyTime bieten dir individuelle Unterstützung bei den unterschiedlichsten Herausforderungen im Familienleben. Wir helfen dir dabei, Schritt für Schritt neue Verhaltensweisen zu lernen und anzuwenden. Jederzeit und überall per App.
Selbsterkenntnis entwickeln 🧠: Der erste Schritt ist, sich der eigenen Geschichte bewusst zu werden und zu erkennen, wie sie das eigene Verhalten beeinflusst. Das Verständnis, dass Gewalt erlernt wurde, hilft, neue Wege zu suchen.
Emotionale Kontrolle erlernen 😤 ➡️ 😌: Durch Atemtechniken, Achtsamkeit oder Meditation kann man lernen, mit Wut und Frustration umzugehen, bevor sie eskalieren und sich in Gewalt äußern.
Neue Erziehungsmethoden lernen 📚: Sich über gewaltfreie Erziehungsmethoden zu informieren und diese aktiv anzuwenden, kann helfen, alte Muster zu ersetzen. Es gibt viele Ressourcen, wie Bücher oder Kurse, die Eltern dabei unterstützen, positive Wege zu finden, mit Konflikten umzugehen.
Unterstützungsnetzwerk aufbauen 🤝: Der Austausch mit anderen Eltern, Familienmitgliedern oder Selbsthilfegruppen kann entlastend wirken und neue Perspektiven eröffnen. Es hilft zu wissen, dass man nicht allein ist und Unterstützung bekommt.
Eigenes Verhalten reflektieren 🔍: Regelmäßige Selbstreflexion, zum Beispiel durch Tagebuchschreiben, hilft, das eigene Verhalten zu analysieren und Verbesserungspotenzial zu erkennen.
Geduld mit sich selbst haben ⏳: Veränderungen passieren nicht über Nacht. Es ist wichtig, sich selbst Zeit zu geben und Rückschläge als Teil des Prozesses zu akzeptieren.
Durch diese Schritte kann man lernen, alte Verhaltensmuster zu durchbrechen und eine gesunde, gewaltfreie Beziehung zu den eigenen Kindern aufzubauen.
Auch sexuelle Gewalt (jegliche sexuelle Handlung an oder vor Kindern) und psychische Gewalt (ignorieren, demütigen, isolieren, extremer Leistungsdruck etc.) können ähnliche Auswirkungen haben, wie körperliche Gewalt. Bei jeglicher Form von Gewalterfahrung oder wenn ihr merkt, dass ihr euch eurem Kind gegenüber in jeglicher Form gewalttätig verhaltet, kontaktiert professionelle Unterstützung!
Fazit
Wenn du in deiner Kindheit toxische Verhaltensweisen deiner Eltern erlebt hast, sind Wut und Trauer im Erwachsenenalter völlig normal. Solche Erfahrungen beeinflussen deine Beziehungen, dein Selbstwertgefühl und sogar, wie du mit deinen Kindern umgehst.
Um den Kreislauf zu durchbrechen, kannst du durch Therapie, bewusste Reflexion und gesunde Begleitung deiner Kinder lernen, mit deiner Wut umzugehen und neue Verhaltensweisen zu entwickeln. Der Weg zu einem sorgenfreieren Leben erfordert Geduld. Aber es ist möglich, alte Muster zu durchbrechen und gesunde, erfüllte Beziehungen zu führen.
Unsere Psychologinnen stehen dir über unsere App AllyTime auch persönlich zur Seite.
Quellen:
[1] SCHONE, R./ GINTZEL, U./ JORDAN, E./ KALSCHEUER, M./ MÜNDER, J. (1997): Kinder in Not. Vernachlässigung im frühen Kindesalter und Perspektiven sozialer Arbeit, 1. Aufl., Münster.
[2] HERRMANN, B. (2002): Körperliche Misshandlung von Kindern. Somatische Befunde und klinische Diagnostik, in: Monatsschrift Kinderheilkunde, Volume 150, S. 1324-1338.
[3] KINDLER, H. (2006a): Was ist unter Vernachlässigung zu verstehen?, in: KINDLER, H./ LILLIG, S./ BLÜML, H./ MEYSEN, T./ WERNER, A. [Hrsg.]: Handbuch Kindeswohlgefährdung nach § 1666 BGB und Allgemeiner Sozialer Dienst (ASD), München, S. 3-1 – 3-3.
[4] Herrmann, B. (2005). Vernachlässigung und emotionale Misshandlung von Kindern und Jugendlichen. Kinder-und Jugendarzt, 36(6), 1-7.
[5] Rees, C. (2008). The influence of emotional neglect on development. Paediatrics and Child Health, 18(12), 527-534.
[6] Lee SW, Bae GY, Rim HD, Lee SJ, Chang SM, Kim BS, Won S. Die Wirkung der Resilienz auf die Verbindung zwischen emotionaler Vernachlässigung und depressiven Symptomen. Psychiatrie Untersuchung. 2018 Jan; 15(1):62-69. Doi: 10.4306/pi.2018.15.1.62. Epub 2018 16. Jan. PMID: 29422927; PMCID: PMC5795033.
[7] BLUM-MAURICE, R.(2002): Die Wirkungen von Vernachlässigung auf Kinder und der "Kreislauf der Gewalt" in: ZENZ, W. M./ BÄCHER, K./ BLUM-MAURICE, R. [Hrsg.]: Die vergessenen Kinder, Köln, S. 112-128.
[8] https://medicalxpress.com/news/2015-09-term-impact-parental-children.html
[9] https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/5_Publikationen/Praevention/Sonstiges/Projektbericht_Handbuch_Staerkung_der_psychischen_Gesundheit_von_Kindern_und_Jugendlichen_im_Rahmen_des_Elternbildungsprogramms_Starke_Eltern_-_Starke_Kinder.pdf
[10] Herrmann, B. (2005). Vernachlässigung und emotionale Misshandlung von Kindern und Jugendlichen. Kinder-und Jugendarzt, 36(6), 1-7.
[11] ALBERT, I. (2008): Innerfamiliäre Gewalt gegen Kinder, 1. Aufl., Frankfurt am Main.