Desorganisierter Bindungsstil: Zerrissen zwischen Nähe und Distanz
„Ich brauche Nähe - und halte sie kaum aus“
Kaum ein Satz beschreibt den inneren Zustand vieler Menschen mit einem desorganisierten Bindungsstil so treffend. Sie sehnen sich zutiefst nach Nähe, Verbindung, Vertrauen – doch wenn diese Nähe entsteht, wird sie oft als überfordernd, unsicher oder sogar bedrohlich erlebt. Was folgt, ist Rückzug, emotionale Abschottung oder Misstrauen – nicht aus Mangel an Liebe, sondern weil das Bindungssystem Nähe nicht als sicher abgespeichert hat.
In diesem Artikel erfährst du:
Wie ein desorganisierter Bindungsstil entsteht
Welche Auswirkungen er im Erwachsenenalter hat
Wie du ihn erkennen und verändern kannst
Lesezeit 10 min
Was sind eigentlich Bindungsstile
Bindungsstile gehen auf die Arbeit von John Bowlby zurück und wurden durch die Forschung von Mary Ainsworth weiterentwickelt. Durch die Beobachtung des Verhaltens von Kleinkindern in frühen Beziehungssituationen wurden vier grundlegende Bindungstypen beschrieben:
Sicher gebunden: Das Kind erlebt die Bezugsperson als verlässlich. Es entwickelt Vertrauen und ein gesundes Selbstwertgefühl.
Desorganisiert: Bezugspersonen werden gleichzeitig als Quelle von Trost und Bedrohung erlebt. Das Verhalten des Kindes ist widersprüchlich oder erstarrt.
Wie entsteht ein desorganisierter Bindungsstil
Was auf Seite der Eltern passiert
Ein desorganisierter Bindungsstil entwickelt sich häufig dann, wenn Kinder mit Bezugspersonen aufwachsen, die emotional überfordert, instabil oder sogar beängstigend sind. Diese Eltern sind nicht zwingend bewusst verletzend. Oft sind sie selbst traumatisiert oder stark belastet.
Faktoren, die einen desorganisierten Bindungsstil begünstigen:
Unvorhersehbare Reaktionen, Stimmungsschwankungen
Suchterkrankung, psychische Belastungen, Trauma
Widersprüchliche Kommunikation („Komm her – Geh weg“)
Gewalt, Missbrauch, Vernachlässigung, hoher Leistungsdruck
Familiäres Chaos, Unsicherheit, Überforderung
Was das Kind daraus lernt
In dieser Situation kann das Kind keine konsistente Bindungsstrategie entwickeln. Stattdessen entsteht eine tiefe Verunsicherung:
„Ich brauche dich, um mich zu beruhigen – aber ich fürchte mich vor dir.“
„Nähe ist unberechenbar.“
„Ich kann niemandem vertrauen – nicht einmal denen, zu denen ich eigentlich gehöre.“
Das Ergebnis: Das Kind entwickelt gleichzeitig Annäherungs- und Vermeidungstendenzen – wie Gas geben und bremsen zur selben Zeit. Das Nervensystem gerät in dauerhafte Alarmbereitschaft. Häufig zeigen sich körperliche Symptome wie Schlafstörungen, Erstarrung oder Unruhe.
Wie zeigt sich ein desorganisierter Bindungsstil im Erwachsenenalter?
Im Erwachsenenalter wird der desorganisierte Bindungsstil häufig als ängstlich-vermeidend beschrieben – nicht zu verwechseln mit dem klassisch vermeidenden Stil. Menschen mit dem ängstlich- vermeidenden Bindungsmuster zeigen typische Merkmale beider Richtungen:
Sehnsucht nach Nähe, Verlustangst, emotionale Abhängigkeit
Rückzug, emotionale Kälte, Abwertung des Gegenübers
Diese widersprüchlichen Impulse führen zu intensiven inneren Spannungen.
„Ich will Nähe – aber wenn sie entsteht, wird sie mir zu viel.“
„Ich öffne mich – und dann ziehe ich mich zurück.“
„Ich weiß nicht, was ich will – oder ich will alles gleichzeitig.“
„Ich bin zu viel – und trotzdem nie genug.“
„Ich zeige mich – aber nur, wenn ich niemanden brauche.“
Menschen mit einem desorganisierten Bindungsstil sind oft hin- und hergerissen. Nähe wird gesucht, gleichzeitig aber kaum ertragen. Sie wünschen sich Verbindung, aber wenn es konkret wird, verschließen sie sich plötzlich oder werden kalt und distanziert. Beziehungen können dadurch als instabil oder sogar „toxisch” erlebt werden, selbst wenn beide Partner sehr bemüht sind. Diese innere Dynamik ist keine Entscheidung, sondern Ausdruck des Bindungssystems.
Woran erkenne ich einen desorganisierten Bindungsstil?
Ein desorganisierter Stil zeigt sich nicht nur im Verhalten in Beziehungen, sondern oft auch im inneren Erleben.
Viele Betroffene ordnen sich zunächst als vermeidend oder ängstlich ein bis sie bemerken, dass beide Muster gleichzeitig vorhanden sind und sich widersprechen.
Typische Anzeichen:
Tiefe Sehnsucht nach Nähe – aber Angst, sich zu öffnen
Rückzug, Erstarrung oder Aggressivität bei Konflikten
Gefühl, sich selbst nicht zu spüren oder innerlich „leer“ zu sein
Wiederkehrendes Erleben von Chaos oder Hilflosigkeit in Beziehungssituationen
Selbstabwertung: „Mit mir stimmt etwas nicht“
Misstrauen: „Andere verletzen mich sowieso“
Was hilft bei einem desorganisierten Bindungsstil?
Verstehen, was passiert
Ein desorganisierter Bindungsstil ist eine Überlebensstrategie.
Du hast gelernt, Bindung zu überleben, in einem Umfeld, in dem sie nicht sicher war.
Ein erster Schritt ist, dir bewusst zu machen, wie du über dich selbst, über andere und über Beziehungen denkst. Häufig sind diese Überzeugungen still im Hintergrund wirksam – und prägen dein Erleben stärker, als dir vielleicht bewusst ist.
Mache dir bewusst:
Welche inneren Sätze begleiten dich?
Was glaubst du über dich?
Was glaubst du über andere?
Typische Überzeugungen sind:
„Ich bin nicht beziehungsfähig.“
„Ich bin zu viel – oder nicht genug.“
„Andere sind nicht verlässlich.“
„Ich kann niemandem wirklich vertrauen.“
Dazu kommt: Diese Gedanken und Bewertungen tauchen nicht einfach „aus dem Nichts“ auf – sie werden oft durch bestimmte Auslöser (Trigger) aktiviert.
Zum Beispiel:
Jemand kommt dir näher – und dein System geht auf Abstand.
Ein Partner äußert Kritik – und du fühlst dich sofort emotional bedroht.
Du wirst nicht sofort zurückgerufen – und in dir beginnt ein Gedankenkarussell: „Was habe ich falsch gemacht?“, „Bin ich nicht wichtig genug?“. Und fast gleichzeitig: „Dann will ich auch keinen Kontakt mehr.“, „Ich trenne mich.“ Noch bevor du bewusst einordnen kannst, ob es überhaupt ein Problem gibt, springt dein System auf alte Überlebensmuster an.
Diese Reaktionen haben einen Ursprung, die heute erkannt und verstanden werden dürfen. Wenn du erkennst, was in dir passiert, kannst du anfangen, damit anders umzugehen. Das braucht Zeit, aber es ist möglich. Schritt für Schritt. In deinem Tempo.
Selbstregulation lernen
Ein zentrales Ziel ist es, wieder Zugang zu deinen Gefühlen zu bekommen – sie wahrzunehmen, zu benennen, zu halten und zu regulieren. Das bedeutet, nicht mehr automatisch reagieren zu müssen, sondern einen kleinen Moment dazwischen entstehen zu lassen. Einen Atemzug. Eine Pause. Dein Nervensystem darf lernen, dass nicht jede Nähe bedrohlich ist. Dass du nicht jedes Gefühl abwehren musst. Dass du bleiben darfst – bei dir und beim anderen.
Traumasensible Verfahren und körperorientierte Methoden können dabei hilfreich sein. Sie unterstützen dich dabei, dein inneres Erleben zu stabilisieren – auf eine Weise, die dich nicht überfordert.
Fazit: Nähe darf sicher werden
Ein desorganisierter Bindungsstil entsteht dort, wo Nähe nicht sicher war, sondern verwirrend, überwältigend oder sogar gefährlich. Die Folge ist ein innerer Widerspruch zwischen dem Wunsch nach Verbundenheit und dem tief verankerten Bedürfnis nach Schutz. Veränderung beginnt mit Verständnis und mit Mitgefühl für dich selbst, mit dem Mut, hinzusehen und dich nicht mehr für das zu verurteilen, was du gelernt hast. Und ja: Das ist kein gerader Weg. Kein Ziel, das man über Nacht erreicht. Es ist ein Prozess, der dauert, aber der sich auch lohnt. Und du musst ihn nicht allein gehen.
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