Unsicher-vermeidender Bindungsstil in Beziehungen: Erkennen & verändern

In den letzten Jahren wächst in sozialen Medien das Interesse an psychischer Gesundheit und Psychologie. Viele Menschen setzen sich zunehmend mit psychologischen Konzepten auseinander, doch oft bleiben wichtige Begriffe unklar oder werden missverstanden. Einer dieser Begriffe ist der "unsicher-vermeidende Bindungsstil". Doch was bedeutet das genau, wie entsteht dieser Bindungsstil, und welche Auswirkungen hat er auf zwischenmenschliche Beziehungen? In diesem Artikel erklären wir die wissenschaftlichen Grundlagen und zeigen Wege auf, diesen Bindungsstil besser zu verstehen und mit ihm umzugehen.


Lesezeit 10 min


Was sind eigentlich Bindungsstile und was bedeutet unsicher-vermeidend?

Die Bindungstheorie wurde in den 1950er Jahren vom britischen Psychologen John Bowlby entwickelt und beschreibt, wie sich emotionale Bindungen zwischen Kindern und ihren Bezugspersonen formen. Bowlby unterschied zwischen drei grundlegenden Bindungstypen: sichere Bindung, unsicher-vermeidende Bindung und unsicher-ambivalente Bindung. Später ergänzte die Forschung einen vierten Typ: die desorganisierte Bindung.

Menschen mit einem unsicher-vermeidenden Bindungsstil haben oft Schwierigkeiten mit Nähe und Intimität. Sie neigen dazu, sich emotional zurückzuziehen, wenn jemand ihnen zu nahekommt, und bevorzugen Unabhängigkeit gegenüber enger Verbundenheit. Ihre Schutzstrategie aus der Kindheit - das Unterdrücken von Gefühlen, um nicht verletzt zu werden - zeigt sich dann in ihren Partnerschaften, in denen sie tiefergehende emotionale Gespräche vermeiden oder sich aus Konflikten zurückziehen, anstatt sie zu lösen.

Der unsicher-vermeidende Bindungsstil entsteht, wenn Kinder wiederholt erleben, dass ihre Bezugspersonen emotional distanziert oder ablehnend auf ihre Bedürfnisse reagieren. Dies kann sich in vielen alltäglichen Situationen zeigen. Zum Beispiel könnte ein Kind nach Trost suchen, wenn es sich wehgetan hat, aber anstatt beruhigt zu werden, hört es von seinen Eltern: "Das war doch nicht schlimm, reiß dich zusammen!" Oder ein Kind könnte begeistert eine Zeichnung zeigen, die es für seine Eltern gemalt hat, nur um eine gleichgültige oder abweisende Reaktion zu erhalten. Manchmal äußern sich solche Muster auch in Strafen für emotionale Ausdrücke, etwa wenn ein Kind weint und dafür ausgelacht oder ignoriert wird. Auch übermäßige Strenge oder Kälte, etwa durch Eltern, die ihren Kindern wenig körperliche Nähe oder liebevolle Worte schenken, kann zu einer vermeidenden Bindung führen. Das Kind lernt dabei, dass es besser ist, keine emotionalen Bedürfnisse zu äußern, da sie ohnehin nicht erfüllt werden. Um sich vor Zurückweisung zu schützen, lernen sie, emotionale Bedürfnisse zu unterdrücken und auf Unabhängigkeit zu setzen. Dies setzt sich oft ins Erwachsenenalter fort und beeinflusst, wie Menschen Beziehungen führen.

Die Forschung von Mary Ainsworth, insbesondere ihr "Fremde-Situations-Experiment", brachte wichtige Erkenntnisse über das Verhalten von Kindern mit einem unsicher-vermeidenden Bindungsstil. In diesem Experiment wurde beobachtet, wie Kleinkinder auf die Trennung und Wiedervereinigung mit ihrer primären Bezugsperson reagieren. Während sicher gebundene Kinder sich zunächst beunruhigt zeigten, aber bei der Rückkehr der Bezugsperson Trost suchten, wirkten vermeidend gebundene Kinder auffällig unbeteiligt. Sie schienen den Abschied kaum zu bemerken und zeigten bei der Rückkehr der Bezugsperson wenig bis keine Freude oder Erleichterung. Physiologische Messungen ergaben jedoch, dass diese Kinder innerlich genauso gestresst waren wie die anderen, sie hatten nur gelernt, ihre Emotionen nicht zu zeigen.

Neben dieses frühkindlichen Prägungen deuten einige Studien auch darauf hin, dass es außerdem eine genetische Komponente geben könnte. Zwillingsstudien legen beispielsweise nahe, dass manche Menschen eine Veranlagung zu vermeidenden Bindungsstilen haben könnten. Weitere Forschung ist erforderlich, um zu klären, inwieweit genetische Faktoren zur Entwicklung von Bindungsstilen beitragen.

Vom Schutzmechanismus zum Hindernis

Die Strategien, die ein Kind mit einem unsicher-vermeidenden Bindungsstil entwickelt, sind zunächst überlebenswichtig. Wenn emotionale Bedürfnisse immer wieder ignoriert oder abgelehnt werden, lernt das Kind, sich selbst zu schützen, indem es diese Bedürfnisse unterdrückt. Diese Anpassung hilft in der Kindheit, wiederholte Enttäuschungen und Zurückweisungen zu vermeiden. Es wird unabhängiger, zeigt weniger Emotionen und erwartet weniger Unterstützung von anderen.

Doch das, was als Kind eine wichtige Schutzstrategie war, kann im Erwachsenenalter zur Belastung werden. Die erlernte Unabhängigkeit kann dazu führen, dass emotionale Nähe als unangenehm oder bedrohlich empfunden wird, während es gleichzeitig einen tiefen Wunsch nach dieser zwischenmenschlichen Tiefe gibt. Menschen mit einem unsicher-vermeidenden Bindungsstil haben oft Schwierigkeiten, sich in Beziehungen zu öffnen, weil sie unbewusst davon ausgehen, dass ihre Bedürfnisse ohnehin nicht erfüllt werden. Sie vermeiden tiefe emotionale Gespräche, ziehen sich bei Konflikten zurück oder fühlen sich schnell eingeengt, wenn jemand ihnen zu nahekommt. So kann die einst hilfreiche Schutzmauer zu einer Barriere werden, die den Aufbau sicherer und erfüllender Beziehungen erschwert.

Merkmale einer unsicher-vermeidenden Bindung

Die oben beschriebenen unbewusste Schutzmechanismen werden in bestimmten Situationen besonders aktiv und können dazu führen, dass sich Menschen mit diesen Bindungserfahrungen aus Beziehungen oder Gesprächen zurückziehen, anstatt sich mit ihren Emotionen auseinanderzusetzen. Gerade in Momenten, in denen Nähe, Vertrauen oder emotionale Offenheit gefordert sind, geraten sie in Stress, weil diese Erfahrungen in der Vergangenheit mit Ablehnung oder Unsicherheit verknüpft waren.

Erwachsene mit einem unsicher-vermeidenden Bindungsstil neigen dazu, in ihren zwischenmenschlichen Beziehungen bestimmte Verhaltens- und Denkmuster zu zeigen.

  • Starke Unabhängigkeit: Sie betonen ihre Autonomie und meiden emotionale Abhängigkeiten. Zum Beispiel könnte eine Person in einer Beziehung lieber alleine schwierige Zeiten durchstehen, anstatt Unterstützung von ihrem Partner anzunehmen.

  • Schwierigkeiten mit emotionaler Nähe: Sie halten Distanz, auch in romantischen Beziehungen. So könnten sie körperliche Zuneigung oder tiefgründige Gespräche über Gefühle meiden, um sich nicht verletzlich zu fühlen.

  • Geheimniskrämerei: Sie teilen persönliche Gedanken und Gefühle nur ungern mit anderen. Beispielsweise könnte jemand seine Sorgen nicht einmal mit engen Freunden oder Familienmitgliedern besprechen und Probleme für sich behalten.

  • Konfliktvermeidung: Sie neigen dazu, sich aus Konflikten zurückzuziehen, anstatt diese zu lösen. Ein typisches Verhalten wäre es, ein Gespräch abrupt zu beenden oder einfach zu schweigen, wenn ein Partner ein Problem ansprechen möchte.

  • Unterdrückung von Emotionen: Sie haben Schwierigkeiten, ihre eigenen Gefühle zu erkennen oder auszudrücken. Zum Beispiel könnte jemand in stressigen Situationen emotionslos erscheinen, weil er unbewusst gelernt hat, seine Gefühle zu unterdrücken.

  • Misstrauen gegenüber anderen: Sie glauben oft, dass sie sich nur auf sich selbst verlassen können. Ein Mensch mit diesem Bindungsstil könnte davon ausgehen, dass andere ihn letztlich enttäuschen werden, und deshalb keine engen Bindungen eingehen.

Den eigenen Bindungsstil verändern – Ein langer, aber lohnenswerter Weg

Diese tief verankerten Muster sind nicht leicht aufzubrechen, da sie oft über Jahre hinweg erlernt und unbewusst gefestigt wurden. Dennoch zeigen Forschungsergebnisse, dass Veränderung möglich ist – auch wenn sie Zeit, Geduld und bewusste Auseinandersetzung erfordert. Bindungsmuster sind nicht statisch - mit gezielter Arbeit an sich selbst und durch neue, positive Beziehungserfahrungen können Menschen lernen, sicherere Bindungsstrategien zu entwickeln. Der erste Schritt ist, sich der eigenen Muster bewusst zu werden und zu erkennen, wie sie das eigene Beziehungsverhalten beeinflussen. Hier sind einige Ansätze:

  • Selbstreflexion: Eine ehrliche Auseinandersetzung mit dem eigenen Bindungsstil ist der erste Schritt zur Veränderung.

    • Tipp: Nimm dir einmal pro Woche 10 Minuten Zeit und beantworte schriftlich folgende Fragen:

      • Wie habe ich in dieser Woche auf Nähe oder Kritik reagiert?

      • Gab es Situationen, in denen ich mich emotional zurückgezogen habe? Warum?

      • Was hätte ich gebraucht, aber nicht kommuniziert?

    • Halte diese Reflexionen in einem festen Notizbuch – so erkennst du mit der Zeit Muster.

  • Emotionale Ausdrucksfähigkeit üben: Gefühle zu benennen und bewusst wahrzunehmen, fällt vielen Menschen mit einem unsicher-vermeidenden Bindungsstil schwer.

    • Tipp: Nutze eine Gefühlsliste oder eine Emotionsskala (z. B. von 1–10), um deinen inneren Zustand morgens oder abends zu bewerten. Dazu lassen sich zahlreiche kostenlose Tools im Internet finden.

    • Übung mit vertrauten Personen: Sag bei einem alltäglichen Treffen (z. B. beim Kaffeetrinken mit einer Freundin) bewusst einen Satz wie:
      „Ich merke gerade, dass ich mich ein bisschen angespannt fühle – das fällt mir nicht leicht zu sagen.“

    • Alternativ: Übe das Ausdrücken im Selbstgespräch oder laut vor dem Spiegel, um dich an das Formulieren von Gefühlen zu gewöhnen, auch wenn sich das erstmal komisch anfühlt.

  • Kommunikationsfähigkeiten verbessern: Klar über Gefühle und Bedürfnisse zu sprechen, kann Unsicherheiten abbauen. Menschen mit vermeidender Bindung neigen dazu, schwierige Themen zu meiden – hier kann es helfen, gezielt zu üben, Wünsche und Ängste auszudrücken, anstatt sich zurückzuziehen.

    • Tipp: Übe kleine Ich-Botschaften im Alltag:

      • Statt: „Du hörst mir nie zu“, lieber:
        „Ich fühle mich übergangen, wenn ich rede und du nebenbei am Handy bist.“

    • Schreibe dir kritische Gespräche vorab auf – z. B. was du sagen möchtest und was du befürchtest. Das nimmt Druck raus und gibt Sicherheit.

  • Achtsamkeit praktizieren: Achtsamkeitstechniken wie Meditation oder bewusste Atemübungen helfen, Emotionen wahrzunehmen, ohne sofort darauf zu reagieren. Dadurch kann eine neue innere Sicherheit entstehen, die es erleichtert, in schwierigen Beziehungssituationen nicht reflexhaft auf Distanz zu gehen.

    • Tipp: Starte mit einer 2-Minuten-Atemübung am Morgen oder Abend:

      • Setz dich hin, schließe die Augen, atme tief ein und aus, und beobachte nur deinen Atem.

    • Nutze achtsame Routinen: Beim Zähneputzen, Duschen oder Spazierengehen einmal täglich versuchen, ganz bei der Handlung zu bleiben und zu bemerken: Was spüre ich gerade? Was höre ich? Was denke ich?

    • In Konfliktsituationen: Zähle innerlich bis 5, bevor du antwortest. Allein diese kleine Pause kann helfen, automatische Schutzreaktionen zu unterbrechen.

Wann sollte ich mir Hilfe holen?

Manchmal sind die eigenen Beziehungsmuster so fest verwurzelt und eng verwoben mit der Persönlichkeit, dass man es ohne professionelle Hilfe nicht schafft. Das ist kein Beinbruch! Wir von AllyTime unterstützen dich dabei, deine Bindungsmuster besser zu verstehen und neue, gesündere Beziehungsstrategien zu entwickeln. Wenn du jedoch psychisch stark leidest, dein Alltag dadurch sehr eingeschränkt ist oder du bereits eine diagnostizierte psychische Erkrankung hast, ist es wichtig, therapeutische Unterstützung in Anspruch zu nehmen. In solchen Fällen können erfahrene Therapeut:innen dir gezielt helfen, mit deinen Herausforderungen umzugehen und den bestmöglichen Weg für dich zu finden. Geeignete Therapieformen dafür sind z.B. die Mentalisierungsbasierte Therapie (Fonagy et al., 2002) oder die Emotionsfokussierte Therapie (EFT) aber auch alle anderen, wissenschaftlich anerkannten Psychotherapieformen.

Fazit

Der unsicher-vermeidende Bindungsstil kann das Leben und insbesondere enge Beziehungen herausfordern. Was einst als Schutzmechanismus diente, kann im Erwachsenenalter dazu führen, dass emotionale Nähe als unangenehm oder sogar bedrohlich empfunden wird. Doch die gute Nachricht ist: Veränderung ist möglich.

Durch Selbstreflexion, bewusstes Wahrnehmen von Emotionen und gezieltes Arbeiten an der eigenen Kommunikationsfähigkeit lassen sich diese tief verankerten Muster nach und nach aufbrechen. Sich professionelle Unterstützung zu suchen, kann dabei ein entscheidender Schritt sein.


Unsere Psychologinnen stehen dir über unsere App AllyTime auch persönlich zur Seite.


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