Zu viel ist nicht genug – Hilfe, ich habe ein High Need Baby!

fachlich geprüft von Lea Siemann (Dipl. Pädagogin)

Neugeborene und Babys schreien, das weiß jeder. Die Nächte sind anfangs hart, chaotisch, und frisch gebackene Eltern sind oft nur noch ein Schatten ihrer selbst. Doch dieser Zustand pendelt sich nach einiger Zeit ein und alle können wieder etwas mehr zu Kräften kommen. 

Doch was, wenn sich das Baby nicht mehr ablegen lässt, ohne in panisches Kreischen zu verfallen? Was, wenn das Baby auf dir „wohnt“? Du dich ausgelaugt und ausgesaugt fühlst? Dann hast du vielleicht ein High Need Baby. Das kann vor allem für junge Mütter eine sehr große Herausforderung darstellen und zu großer Erschöpfung, Stress, psychosomatischen Beschwerden und sogar zu einer postpartalen Depression oder einem Mama-Burnout führen.

Ein High Need Baby kann sehr belastend für die junge Mutter sein und sie auch psychisch sehr herausfordern. Das Bedürfnis nach Alleinsein und Autonomie können mit einem High Need Baby zu kurz kommen – Überlastung, Überforderung und Unsicherheiten sind häufig die Konsequenz. 

Dieser Artikel soll Klarheit darüber bringen, ob ihr ein High Need Baby habt. Und er soll aufzeigen, wie man im Alltag mit der enormen Belastung am besten umgehen kann, damit diese herausfordernde Situation leichter wird und Ängste, Sorgen und Erschöpfung reduziert werden können.


Lesezeit 15 Min


Was ist ein High Need Baby?

Ein High Need Baby zeichnet sich durch besonders starke Bedürfnisse aus, die es oft lautstark und beharrlich äußert. Dieser Begriff wurde von Dr. William Sears, einem Pädiatrie-Professor aus Kalifornien, geprägt.

Woher kommt der Begriff High Need Baby?

William und Martha Sears, ein Ehepaar mit umfassender Erfahrung im Bereich Kindererziehung, haben den Begriff der „High Need Babys" und den des „Attachment Parenting“ ins Leben gerufen. Sie arbeiteten zwölf Merkmale von „High Need Babys" heraus, um diese als solche benennen zu können.

Diese sollten (und sollen) dazu dienen, mit einer spezifischen Form der Elternschaft auf diese speziellen Kinder einzugehen: Das „Attachment Parenting“. Hierzulande sprechen wir von bedürfnisorientierter oder bindungsorientierter Erziehung oder Begleitung.

Was ist Attachment Parenting?

Attachment Parenting (AP) ist eine Erziehungsphilosophie, die ebenfalls von den Eheleuten Sears geprägt wurde. Im Fokus steht hier die starke emotionale Bindung zwischen Eltern und Kind durch Nähe und einfühlsames und promptes Reagieren auf die kindlichen Bedürfnisse.

Ziel des Attachement Partenting nach Sears ist es, eine sichere Bindung aufzubauen, die eine gesunde emotionale, soziale und psychologische Entwicklung des Kindes fördert. Besonders wichtig ist hier die Feinfühligkeit gegenüber dem Kind. Eltern sollen auf ihr Bauchgefühl hören und intuitiv auf ihr Kind reagieren.

Habe ich ein High Need Baby? – mach den Test

Die erste Zeit nach der Geburt und insbesondere die ersten drei Monate mit einem Neugeborenen können sehr herausfordernd für alle Beteiligten sein. Deshalb gilt es zwischen einem „normal“ bedürftigen Baby, einem Schrei-Baby und einem High Need Baby zu unterscheiden. Hier sind die zwölf Kriterien des hochbedürftigen Kindes nach der Definition von Sears:

  1. Dein Baby ist intensiv, unruhig und wirkt getrieben und hat ein starkes Bedürfnis nach Nähe. 

  2. Es ist ständig in Bewegung und angespannt.

  3. Es ist anstrengend und „saugt“ die Eltern förmlich aus.

  4. Es will ständig gefüttert werden.

  5. Es ist fordernd, kann sehr bestimmt auftreten und verlangt nach sofortiger Aufmerksamkeit.

  6. Es ist ständig wach und benötigt wenig Schlaf.

  7. Es ist kontinuierlich unzufrieden.

  8. Es ist unberechenbar und hat starke Stimmungsschwankungen.

  9. Es ist hochsensibel, nimmt alles um sich herum wahr und jedes Geräusch weckt es auf.

  10. Es will ständig getragen werden, lässt sich nicht ablegen.

  11. Es kann sich nicht selbst beruhigen, findet nicht allein zur Ruhe oder gar in den Schlaf.

  12. Es hat Trennungsprobleme und fürchtet sich vor Neuem und Fremden.

 

Nicht jedes intensiv weinende Baby in den ersten Lebenswochen ist ein High Need Baby. Andere Ursachen für die Unzufriedenheit und das Weinen können auch Drei-Monats-Koliken sein. Auch eine Blockade, eine traumatische Geburt und andere Faktoren können dahinterstecken. Es ist immer wichtig, einen Arzt zurate zu ziehen.

 

Wie gehe ich mit einem High Need Baby um?

Falls viele der oben genannten Merkmale auf dein Baby zutreffen, hast du sehr wahrscheinlich ein High Need Baby. Als Erstes dazu: Das ist eine sehr herausfordernde Situation und es ist richtig, sich Rat und Hilfe zu suchen. Denn nur wenn du und dein Partner es schaffen, halbwegs bei Kräften zu bleiben, könnt ihr langfristig angemessen auf die Bedürfnisse eures High Need Babys eingehen. Andernfalls geraten Eltern und gerade Mütter in ein Gefühl der Verzweiflung und drohen auszubrennen. Dies kann die Entwicklung eines Mama-Burnouts oder auch eine postpartale Depression begünstigen

Einfache Alltagstipps für das (Zusammen)leben mit einem High Need Baby

Am wichtigsten ist: Macht euch klar, dass ihr nichts falsch gemacht habt. Euer Baby ist nicht krank, sondern besonders bedürftig. 

  • Sucht euch Hilfe. Versucht eure Familie und Freunde einzubinden, sodass ihr Schlaf und Pausen bekommt, um neue Kraft zu schöpfen.

  • Schlaft getrennt und abwechselnd, sodass jeder sein Nervensystem beruhigen kann.

  • Bittet eure Krankenkasse, eine Haushaltshilfe zu bewilligen, die euch unterstützt.

  • Versucht, prompt, aber gelassen auf die Bedürfnisse eures Babys zu reagieren. So wird es mit der Zeit lernen, dass ihr immer da seid und alles in Ordnung ist.

  • Achtet auf einen intensiven Kontakt beim Füttern. Stillen kann dies unterstützen, aber auch bei der Flaschenfütterung kann das direkte Zuwenden und so viel Haut-zu-Haut Kontakt wie möglich, hilfreich sein.

  • Probiert Weißes Rauschen aus. Es gibt viele Apps und YouTube Videos, die dieses spezielle Geräusch abspielen, das von Babys als beruhigend empfunden wird.

  • In einer für euer Baby gerechten Schlafumgebung, könnt ihr euer Baby auch bei euch im Bett schlafen lassen. So bekommt es die Nähe, die es braucht und wird sich langfristig schneller beruhigen. 

  • Bringt so viel Struktur in euren Tag wie möglich. Implementiert Rituale und Routinen wie Spaziergänge, Bäder, Massagen, Entspannungsrituale, Kleidungswechsel – haltet euch dabei an Uhrzeiten. Das gibt nicht nur eurem Baby, sondern auch euch Orientierung und Vorhersagbarkeit.

  • Wechselt euch auch dabei ab, sodass der eine in Charge ist und der andere sich ausruhen kann.

  • Besorgt euch ein Tragetuch oder eine Babytrage. Habt das Baby immer am Körper, wenn ihr Alltagsaufgaben im Haushalt, wie Wäsche, Kochen und Ähnliches erledigt. Das Baby spürt so immer eure Nähe und die angenehme Begrenzung durch die Trage, was sehr beruhigend auf das Kind wirken kann. 

  • Probiert eine Federwiege aus. Die sehr hochpreisigen Federwiegen kann man auch mieten oder leihen.

  • Sucht euch Gleichgesinnte und tauscht euch aus. Eltern ohne High Need Baby können eure Situation oft nur schwer oder gar nicht nachvollziehen. 

  • Grenzt euch ab gegen Meinung und Ratschläge anderer ohne Erfahrungen mit einem High Need Baby. 

Ein High Need Baby und die Meinung der „Anderen“

Sobald der Schwangerschaftstest positiv ist, haben plötzlich viele im Freundeskreis und der Familie eine Meinung zu allem Möglichen. Kinderwagen, Trage, Ernährung, Schlafsituation, Stillen, ja oder nein – die Liste der Tipps ist lang, ungebeten und konfus.

Dieses ungefragte Kommentieren von außen wird mit dem neuen Baby häufig nicht weniger. Ein High Need Baby lässt junge Eltern schnell an ihre Grenzen kommen und verzweifeln. Das macht sie noch durchlässiger für Verunsicherungen aus dem Umfeld. 

Sätze wie „Ihr müsst es einfach schreien lassen, dann beruhigt es sich irgendwann“, „Ach, Kuscheln ist doch so schön. Schwupps, sind die groß und verlassen das Haus“, „Genießt das, solange ihr noch könnt“ und ähnliche fallen auch heutzutage noch. 

Diese verwirrenden Störfeuer können Gefühle verletzen, die eigene Wahrnehmung in Frage stellen und dazu führen, dass ihr euch noch einsamer und verzweifelter fühlt. Auch kann es Konflikte zwischen euch als Paar schüren, wenn beispielsweise einer von euch die Ratschläge der eigenen Eltern annehmen möchte und der andere nicht.

Wichtig ist: Versucht euch von derartigen Ratgebern fernzuhalten. Sucht euch unparteiische und emotional nicht involvierte Personen oder Institutionen aus, um Hilfe zu bekommen. Das können sein:

  • Kinderarzt oder Kinderärztin

  • Hausärztin oder Hausarzt

  • Hebammen

  • Psycholog:innen und Psychotherapeut:innen

  • Stillberaterinnen

  • Beratungsstellen in Kliniken

  • Schreiambulanz und Babyambulanz

  • Familienberatungsstellen

High Need Baby – wie lange dauert das noch?

Neben der Tatsache, dass das High Need Baby nicht krank oder falsch ist, sollten sich betroffene Eltern immer wieder klarmachen: Es wird besser. Pauschal kann man aber nicht sagen, wie lange es dauert, bis sich der anstrengende Zustand ändert. 

Denn die Zeit, bis ein High Need Baby ruhiger wird, variiert je nach Kind. Manche Eltern sehen Verbesserungen innerhalb der ersten Lebensmonate, während bei anderen Kindern die chaotischen Nächte mehrere Jahre anhalten können. 

Hat ein High Need Baby automatisch ADHS?

Nein! Ein High Need Baby entwickelt nicht zwangsläufig eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Obwohl einige Verhaltensweisen wie Hyperaktivität und Schwierigkeiten bei der Selbstregulation bei beiden Gruppen beobachtet werden können, unterscheiden sie sich grundlegend.

High Need Verhalten ist durch einen hohen Bedarf an emotionaler und physischer Zuwendung in den ersten Lebensjahren gekennzeichnet, während ADHS eine neurobiologische Entwicklungsstörung ist, die meistens im Schulalter mit Symptomen wie Aufmerksamkeitsdefiziten und Impulsivität diagnostiziert wird.

Wenn ihr unsicher seid, solltet ihr immer euren Kinderarzt oder eure Kinderärztin um Rat fragen.

High Need Baby oder Schrei-Baby – wo ist der Unterschied?

High Need Babys werden häufig im gleichen Atemzug mit Schrei-Babys genannt. Diese Begriffe beschreiben aber unterschiedliche Verhaltensweisen:

High Need Babys haben viele, komplexe und starke Bedürfnisse und fordern die Befriedigung dieser lautstark ein. Sie benötigen sehr viel Nähe und reagieren sensibel auf ihr Umfeld. High Need Babys benötigen meist durchgehend Körperkontakt und Interaktion mit der Mutter, sind dabei aber zu beruhigen.

Schrei-Babys hingegen schreien permanent, ohne dass die Eltern die Möglichkeit hätten herauszufinden, warum. Schrei-Babys sind nicht zu beruhigen, da nicht ersichtlich ist, was ihnen fehlt. Auch sind Schrei-Babys nach einigen Monaten, meist nach drei, keine Schrei-Babys mehr, sondern nur noch ganz „normale“ Babys, deren Grundbedürfnisse befriedigt werden können.

Beraten lassen – Hilfe mit einem High Need Baby

„Lasst euch beraten“ – dieser Ratschlag kann für Eltern mit einem High Need Baby absurd klingen. „Woher die Zeit und Kraft dafür nehmen?“ Gut, dass es auch telefonische Beratung und Online-Beratung gibt. Schreiambulanzen, Profamilia und viele weitere Anlaufstellen haben eine Telefonhotline. 

Unsere Allywell Coaches bieten dir oder euch individuelle Unterstützung bei den unterschiedlichsten Herausforderungen im Familienleben. Unsere Expert:innen helfen dir oder euch Schritt für Schritt, euer Leben mit einem High Need Baby unbeschwerter zu machen, und geben praktische und leicht umsetzbare Alltagstipps, die zu eurem Baby und eurer individuellen Lebenssituation passen.

Fazit

Das Leben mit einem High Need Baby ist anstrengend und kann neue Eltern physisch und psychisch völlig auslaugen. Es ist wichtig zu erkennen, dass ihr Hilfe braucht, damit ihr eurem Kind und euch selbst gerecht werden könnt. Es gibt viele Anlaufstellen, die auch telefonisch und online zu erreichen sind. Praktikable, alltagsgerechte, individualisierbare und umsetzbare Soforthilfe ist meist nur einen Klick oder einen Anruf weit entfernt.


Unsere psychologischen Mentorinnen stehen dir über unsere App AllyTime auch persönlich zur Seite.


Zurück
Zurück

Was ist der Unterschied zwischen Psychologe, Psychiater und Psychotherapeut

Weiter
Weiter

Seminarbeitrag an der Medical School Hamburg