Verkehrte Rollen - Parentifizierung in Familien mit Zuwanderungsgeschichte

„Ich war immer das starke Kind.“ Ein Satz, hinter dem sich eine tieferliegende Dynamik verbergen kann, nämlich das Phänomen der Parentifizierung. Sie beschreibt ein psychologisches Muster, bei dem Kinder dauerhaft Rollen übernehmen, dise eigentlich Erwachsenen vorbehalten sind – etwa Trost spenden, Entscheidungen treffen oder Verantwortung für das emotionale Gleichgewicht der Familie tragen.

Warum ist es wichtig, sich mit diesem Phänomen zu beschäftigen? Weil diese Rollenumkehr belastende Spuren hinterlassen kann, die oft erst Jahre später sichtbar werden. Auch wenn Parentifizierung in allen sozialen Milieus und Familiensystemen vorkommt – unabhängig von Bildung, Einkommen oder Herkunft, wird sie besonders greifbar am Beispiel von Familien mit Zuwanderungsgeschichte – weshalb dieses Phänomen hier exemplarisch beleuchtet wird.

Kinder von Eltern mit Zuwanderungsgeschichte sind überdurchschnittlich häufig betroffen, weil ihre Familien mit besonderen strukturellen Hürden konfrontiert waren: sprachliche Barrieren, mangelnde gesellschaftliche Teilhabe, Unsicherheiten im Umgang mit Behörden und Bildungssystem sowie emotionale Belastungen durch Ausgrenzung oder das Leben zwischen zwei Kulturen. In vielen Fällen übernahmen die Kinder früh organisatorische, sprachliche und emotionale Aufgaben – nicht aus Nachlässigkeit der Eltern, sondern aus Loyalität und Notwendigkeit.


Lesezeit 15 min


Was ist Parentifizierung? Definition und Fallbeispiel

Definition

Der Begriff bezeichnet die Umkehr von Rollen innerhalb eines Familiensystems. Das Kind wird zum „emotionalen Erwachsenen“ – oft lange, bevor es die kognitive und emotionale Reife dafür hat. Diese Rollenumkehr kann subtil verlaufen, etwa durch ständige Appelle an das Verantwortungsgefühl des Kindes („Du bist doch schon groß“), oder offen, wenn das Kind Aufgaben wie Haushalt, Pflege oder emotionale Stütze übernimmt.

Parentifizierung an sich ist keine psychische Störung, sondern ein Beziehungsmuster innerhalb von Familien. Solange diese Rollenübernahme vorübergehend ist und das Kind ansonsten ausreichend Unterstützung erfährt, muss das keine negativen Folgen haben. Problematisch wird Parentifizierung dann, wenn sie chronisch wird, das Kind überfordert oder es keine Möglichkeit gibt, kindliche Bedürfnisse auszuleben.

In solchen Fällen ist Parentifizierung ein Risikofaktor und kann zur Entstehung psychischer oder psychosomatischer Erkrankungen führen: etwa zu Depressionen, Ängsten, Burnout, Beziehungsproblemen oder Suchterkrankungen.

Wichtig dabei ist zu verstehen: Kein Vater und keine Mutter überträgt solche Rollen in böser Absicht auf ihr Kind. Den meisten Eltern - egal ob mit oder ohne Zuwanderungsgeschichte - ist nicht bewusst, welche Folgen eine dauerhafte Rollenumkehr für ihre Kinder haben kann. In der Regel handeln sie aus ihrer eigenen Not heraus – aus Erschöpfung, Hilflosigkeit oder weil ihnen selbst keine Unterstützung zur Verfügung steht. Die Rollenumkehr entsteht oft schleichend, ohne dass jemand sie benennt oder bewusst herbeiführt. Ein Kind spürt intuitiv, was fehlt, und wächst in die Lücke hinein – manchmal, um Spannungen zu mindern, manchmal, um emotionale Nähe zu sichern. Es wird zur stabilisierenden Kraft im Familiensystem, lange bevor es selbst reif genug ist, diese Verantwortung zu tragen.

Gerade in In Familien mit Zuwanderungsgeschichte ist Parentifizierung oft eine pragmatische Lösung: Kinder lernen schneller Deutsch, verstehen das System besser – und übernehmen folglich früh organisatorische, sprachliche und emotionale Verantwortung.

Fallbeispiel

Viele sogenannte Gastarbeiter:innen kamen in den 60er- und 70er-Jahren mit der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Deutschland – unter prekären Bedingungen, in fremder Sprache, mit wenig Unterstützung. Ihre Kinder wuchsen oft in einem Spannungsfeld auf: zwischen Loyalität zur Herkunftskultur und Anpassungsdruck im Aufnahmeland. Gleichzeitig mussten sie Funktionen übernehmen, für die eigentlich die Eltern zuständig gewesen wären.

Parentifizierung ist ein stilles Erbe – eines, das viele Menschen prägt, ohne dass es je benannt wurde. Gerade in Familien mit Migrationshintergrund gehört sie oft zur unsichtbaren Familiengeschichte.

Ein Fallbeispiel: Aylin, 38 Jahre alt, Tochter türkischer Einwanderer, kam mit sechs Jahren nach Deutschland. Schon mit acht Jahren übersetzte sie amtliche Schreiben, regelte Arzttermine für die Eltern und vermittelte in familiären Konflikten. Heute ist sie Führungskraft, überlastet, chronisch erschöpft – und fragt sich, warum sie eigentlich nie zur Ruhe kommt. Aylins Eltern arbeiteten im Schichtdienst, sprachen wenig Deutsch und waren mit dem deutschen Bildungssystem überfordert. Aylin wurde zur Dolmetscherin der Familie – nicht nur sprachlich, sondern auch emotional. Sie moderierte Streitigkeiten, entschärfte Spannungen, vermittelte zwischen kulturellen Welten. In der Schule war sie die Strebsame, zu Hause die Vernünftige. Raum für kindliches Verhalten? Fehlanzeige.

Auswirkungen im Erwachsenenalter

Die Folgen von Parentifizierung sind oft von außen kaum sichtbar und auch für die Betroffenen selbst eher diffus – und deshalb umso tückischer. Viele Betroffene haben ein übersteigertes Verantwortungsgefühl, setzen sich selten Grenzen, spüren ihre eigenen Bedürfnisse nicht oder halten es kaum aus, „nicht gebraucht zu werden“. Beziehungen können schwierig sein: Nähe macht Angst, Abhängigkeit noch mehr. Viele entwickeln hohe Ansprüche an sich selbst, kämpfen mit Burnout, depressiven Verstimmungen oder chronischem Stress.

In unserem Fallbeispiel waren beide Eltern von Aylin dauerhaft erschöpft, emotional angespannt und innerlich zurückgezogen - in der Folge hat Aylin intuitiv die Verantwortung für das emotionale Gleichgewicht übernommen. Sie spürte schon früh: „Ich darf keine zusätzliche Last sein.“ Aus dieser stillen Botschaft heraus entwickelte sie sich zu „Funktioniererin“: verlässlich, umsichtig, unauffällig. Sie sorgte für Harmonie, vermittelte zwischen ihren Geschwistern und Elternteilen, und stellte dabei ihre eigenen Gefühle und Bedürfnisse zurück.

Aylin aus unserem Beispiel ist heute überaus leistungsfähig, aber innerlich getrieben. Sie kann schwer delegieren, hat Schwierigkeiten, Hilfe anzunehmen – oder gar Schwäche zu zeigen. In ihrer Partnerschaft übernimmt sie automatisch die organisierende, tragende Rolle. Sie fühlt sich oft allein, obwohl sie von Menschen umgeben ist. Ihr inneres Kind kennt keinen Zustand der Sicherheit – nur Funktionieren.

Welche Symptomkomplexe sich im Erwachsenenalter ausbilden, hängt stark von der individuellen Familiengeschichte und Dynamik ab. Dennoch lassen sich bestimmte Muster besonders häufig beobachten. Viele ehemals parentifizierte Kinder zeigen eine ausgeprägte Anpassungsbereitschaft, einen Hang zum Perfektionismus und erhebliche Schwierigkeiten, die eigenen Emotionen wahrzunehmen oder auszudrücken. Nach außen wirken sie oft leistungsfähig und sozial kompetent – doch innerlich fühlen sie sich leer, getrieben oder chronisch erschöpft. Nicht selten treten psychosomatische Beschwerden oder erste Anzeichen eines Burnout auf.

Behandlung: Möglichkeiten und Grenzen

Der erste Schritt in Richtung Heilung ist oft das Erkennen. Viele Betroffene tragen seit Jahren ein diffuses Gefühl in sich, „anders“ gewesen zu sein als andere Kinder – funktionaler, angepasster, überverantwortlich. Doch erst Begriffe wie „Parentifizierung“ geben diesem Erleben einen Rahmen und ermöglichen ein tieferes Verstehen.

In der therapeutischen Begleitung – insbesondere in systemischen oder schematherapeutischen Ansätzen – geht es dann darum, alte Muster sichtbar zu machen, einzuordnen und Schritt für Schritt zu verändern. Dabei kommen verschiedene Zugänge zum Einsatz, die sich ergänzen und gegenseitig vertiefen:

  • Psychoedukation: Hilft dabei zu verstehen, was damals passiert ist und warum das bis heute Auswirkungen hat. Sprache für das Erlebte zu finden, entlastet – und eröffnet die Möglichkeit, neue Perspektiven einzunehmen.

  • Inneres Kind-Arbeit: Ermöglicht eine emotionale Nachnährung, das Zulassen von lange unterdrückten Bedürfnissen und das Einüben von liebevoller Selbstfürsorge.

  • Grenzarbeit: Unterstützt dabei, eigene Grenzen wahrzunehmen, sie klar zu kommunizieren und sich von übermäßigem Verantwortungsgefühl zu lösen – auch dann, wenn sich das anfangs egoistisch anfühlt.

  • Rekonstruktion der eigenen Biografie: Die Lebensgeschichte wird unter dem Blickwinkel der damaligen Rollenverteilung betrachtet – mit dem Ziel, destruktive Muster zu erkennen und eine neue, selbstbestimmte Erzählung zu entwickeln.

  • Emotionale Differenzierung: Fördert die Fähigkeit, eigene Gefühle von übernommenen Emotionen anderer zu unterscheiden – und Ambivalenz in Bezug auf die Eltern auszuhalten, ohne sich selbst zu verlieren.

  • Arbeit mit Beziehungsmustern: Macht sichtbar, wie sich früh erlernte Rollen in heutigen Partnerschaften, Freundschaften oder im Berufsleben wiederholen – und schafft Raum für neue, gesündere Dynamiken.

  • Rollenklärung und -ablösung: Hilft dabei zu erkennen, welche Funktion man einst im Familiensystem eingenommen hat – und unterstützt darin, sich Schritt für Schritt aus überholten Rollen zu befreien.

  • Stärkung des Selbstwerts und der Selbstfürsorge: Zielt darauf ab, den eigenen Wert jenseits von Leistung oder Anpassung zu spüren – und eine innere Haltung aufzubauen, die Schutz, Anerkennung und Mitgefühl für das eigene Ich einschließt.

  • Stabilisierungsarbeit und Ressourcenaktivierung: Vermittelt alltagstaugliche Strategien zur emotionalen Selbstregulation und stärkt innere und äußere Ressourcen – etwa durch Rituale, unterstützende Beziehungen oder kreative Ausdrucksformen.

Sich mit seiner Geschichte auseinanderzusetzen, bedeutet nicht, die Eltern zu beschuldigen. Es bedeutet, die eigene Geschichte ernst zu nehmen – mit all ihren Widersprüchen, Schmerzen und Stärken. Heilung beginnt dort, wo Verstehen möglich wird. Und vielleicht auch ein bisschen Mitgefühl – für das eigene, kleine Ich von damals.


Aylin hat begonnen, ihre Geschichte neu zu erzählen – nicht mehr nur als „starke Tochter“, sondern auch als überfordertes Kind. In der Therapie arbeitet sie daran, Verantwortung abzugeben, sich selbst wichtig zu nehmen und ihr eigenes Tempo zu finden. Sie sagt: „Zum ersten Mal darf ich einfach ich sein – nicht Tochter, nicht Funktion, nur Mensch.“

Gesellschaftliche Auswirkungen: Wenn ganze Generationen zu viel tragen

Parentifizierung ist nicht nur ein individuelles Problem – sie hat strukturelle Dimensionen. Wenn ganze Gruppen – etwa Kinder von Eltern mit Zuwanderungsgeschichte, psychisch belasteten Eltern oder pflegebedürftigen Angehörigen – systematisch überfordert werden, hat das gesellschaftliche Konsequenzen. Betroffene fallen häufiger durch das Raster in Schule und Ausbildung, weil sie sich zu Hause um Dinge kümmern müssen, die andere Kinder nicht einmal kennen. Sie übernehmen früh Verantwortung, gelten als reif – und werden gleichzeitig in ihren kindlichen Bedürfnissen übersehen.

Im Arbeitsleben können parentifizierte Erwachsene extrem leistungsfähig sein – aber auch stark burnout-gefährdet. Sie neigen dazu, Verantwortung zu übernehmen, ohne klare Grenzen zu setzen. Gleichzeitig fällt es ihnen oft schwer, sich selbst in Führungsrollen zu sehen oder Unterstützung einzufordern. Das Gefühl, nie genug zu sein, begleitet viele von ihnen auch im Berufsleben.

Nicht zuletzt betrifft Parentifizierung auch die mentale Gesundheit ganzer Bevölkerungsgruppen. Wenn strukturelle Belastungen – wie Migration, Armut oder fehlende soziale Unterstützung – zu psychischen Belastungen bei Kindern führen, braucht es gesellschaftliche Antworten. Es braucht Räume, in denen über solche Erfahrungen gesprochen werden darf, ohne Schuldzuweisungen – aber mit dem Blick auf Gerechtigkeit und Heilung.

Fazit: Zwischen Stärke und Verletzlichkeit – ein neuer Blick auf alte Muster

Parentifizierung hinterlässt keine sichtbaren Narben – und gerade deshalb ist sie so schwer zu erkennen. Viele Menschen, die heute im Berufsleben glänzen, in Familien alles zusammenhalten oder scheinbar mühelos Verantwortung übernehmen, tragen in sich ein zutiefst verletzliches, überfordertes Kind. Die Folgen dieser früh übernommenen Lasten reichen weit: in persönliche Beziehungen, ins Arbeitsleben, in die körperliche und psychische Gesundheit – und letztlich auch in unsere Gesellschaft.

Doch es gibt Hoffnung. Denn was früh geprägt wurde, lässt sich später bewusst gestalten. Wer versteht, woher bestimmte Muster stammen, kann sich Schritt für Schritt davon lösen. Parentifizierung ist nicht nur eine Last – sie ist oft auch der Ursprung großer Fähigkeiten: Empathie, Verantwortungsgefühl, Tiefe. Der Schlüssel liegt darin, diese Gaben nicht länger gegen sich selbst zu richten.

Der Blick zurück kann schmerzhaft sein – aber er ist auch befreiend. Denn erst wenn wir das innere Kind sehen, das einst zu früh stark sein musste, können wir heute beginnen, ihm das zu geben, was es damals gebraucht hätte: Schutz, Mitgefühl – und Erlaubnis zur Leichtigkeit.


Unsere Psychologinnen stehen dir über unsere App AllyTime auch persönlich zur Seite.


Weiter
Weiter

Sichere Bindung - der Schlüssel für Beziehungen, die halten und guttun