Autonomiephase meistern: Liebevoll Grenzen setzen

fachlich geprüft von Lea Siemann (Dipl. Pädagogin)

Endlich hat man die schlaflosen Nächte hinter sich, die ausgelaufenen Windeln, rote Schniefnasen – ja, vielleicht sogar die Eingewöhnung bei der Tagesbetreuung. „Puh, das hätten wir geschafft“ atmen da viele Eltern von Zweijährigen auf und sind erleichtert, dass ihre Kleinen endlich „die schlimme Phase“ überstanden haben. 
Und zack, steht frech grinsend die Autonomiephase vor der Tür und verwandelt das kuschelige Kleinkind urplötzlich in ein kleines trotziges Wesen, das weiß, was es will – Jetzt! Und SOFORT!
Und wehe dem, der den Plänen eines „Terrible Twos“ oder „Threenagers“ in die Quere kommt. Da geraten Erwachsene schnell an ihre eigenen Grenzen der Belastbarkeit. Häufig macht sich große Ratlosigkeit breit – Stress, Sorge, Überforderung und Unsicherheit sind oft die Folge. In diesem Beitrag geben wir konkrete Ratschläge und Tipps von Psycholog:innen, wie Eltern ihre Kinder durch die Autonomiephase begleiten können, um das emotionale Wohlbefinden aller Familienmitglieder zu bewahren und zu stärken. 

Kind in Autonomiephase

Lesezeit 10 Min


Was ist die Autonomiephase? 

Bei der Frage, wie wir die Autonomiephase so begleiten können, dass unser Kind gestärkt aus ihr hervorgeht, gilt es zu schauen, was die Autonomiephase eigentlich ist. Ging es in dem ersten Jahr des Lebens des Babys noch um das Bedürfnis nach Sicherheit, bedingungsloser Liebe, Bindung und Geborgenheit, stehen in der Autonomiephase das Entdecken des eigenen Willens und des Ichs ganz oben auf der Agenda. 

 

Dein Kind steckt Vollgas in der Trotzphase? Herzlichen Glückwunsch! Das hast du gut gemacht! Denn dein Kind fühlt sich sicher und geborgen bei dir und ist deshalb bereit für den nächsten Entwicklungsschritt. 

 

Warum sind Kinder in der Trotzphase so bockig?

Kinder in der Autonomiephase sind oft eine große Herausforderung für Eltern und begleitende Personen. Es wird geschrien, geweint und manchmal sogar gehauen. Woran liegt das? Einerseits an dem immer größer werdenden Bedürfnis nach Autonomie und andererseits an dem gleichzeitigen Mangel an sprachlichen und motorischen Fähigkeiten. Ein wichtiger Faktor ist dabei die Entwicklung des präfrontalen Cortex. 

 

Was ist der präfrontale Cortex?

Der präfrontale Cortex liegt im vorderen Gehirnbereich und steuert Gedanken, Gefühle, Sprache und die Planungsfähigkeit. Bei Babys und Kleinkindern ist dieser Bereich noch nicht entwickelt – er reift bis zum Alter von etwa 25 bis 30 Jahren weiter und ist erst dann bei den meisten voll ausgebildet. Kleinkinder, Kinder, Teenager und junge Erwachsene können also Schwierigkeiten damit haben ihre Gefühle zu regulieren. 

 

Ebenso wenig wie ein Neugeborenes Klavierspielen kann, kann ein dreijähriges Kind seine Emotionen regulieren – beiden fehlt dazu die körperliche Fähigkeit. 

 

Trotzphase – ab wann geht’s los? 

Viele Eltern sind unsicher: Wann geht die Autonomiephase los? Hier gilt wie immer: Jedes Kind ist anders und hat seine ganz individuelle Art in die Autonomiephase zu starten. Allgemein kann man sagen, dass die Autonomiephase bereits im zweiten Lebensjahr beginnen kann. 

Trotzphase mit 12 Monaten bis 18 Monate – wann startet die Trotzphase?

Schon mit zarten 12 Monaten können Kleinkinder erste Anzeichen der Autonomie zeigen. Der Grund: Das Kleinkind entdeckt jetzt, dass es nicht Mama oder Papa ist, sondern eine eigene kleine Persönlichkeit, die durchaus einen Wirkungsradius hat. 

Diese erste Episode der Autonomiephase umfasst das Kleinkindalter von 12 Monaten über 18 Monate bis hin zu etwa zwei Jahren. Es gibt viel Faktoren in der kindlichen Entwicklung, die hierbei eine Rolle spielen, wie die Beziehung der Eltern, große Geschwister und andere Einflüsse, die diese Entwicklung beeinflussen. 

Trotzphase mit 2 bis 4 Jahren

Die Trotzphase ab dem zweiten Lebensjahr geht oft bis zum etwa vierten Lebensjahr. Das ist oft die Hauptphase der „Trotzphase“, da sie oft geprägt ist von großen Gefühlsausbrüchen und entsprechend verzweifelten Eltern. Viele erleben eine extreme Autonomiephase mit drei Jahren. Häufig steht hier auch die Eingewöhnung in der Kita an oder der Wechsel von der Krippe in den Elementarbereich.

Häufig werden Kinder in dieser Lebensphase als "Terrible Twos" oder „Threenager“ bezeichnet, weil Eltern oder andere begleitende Erwachsene häufig überfordert sind mit den schwankenden Emotionen des Kindes. 

Kinder im Alter von zwei bis vier testen ihren Wirkungsradius immer mehr aus. Auch hier sind die Gefühle stark und schwankend, während die Fähigkeit über die Gefühle zu sprechen noch nicht voll oder noch gar nicht entwickelt ist, was oft zu großer Frustration führt. 

Autonomiephase von 4 bis 7

In der Autonomiephase von Kindern im Alter von vier bis sieben Jahren entwickeln Kinder ein noch stärkeres Unabhängigkeitsgefühl. Gleichzeitig wird ihre Fähigkeit zu sprechen immer besser. Häufig geht das damit einher, dass die Wutanfälle und die große Frustration immer mehr abnehmen. Auch die Fähigkeit, große Emotionen einzuordnen, kann sich weiter entfalten und kann dabei helfen, alltägliche Probleme erfolgreich zu meistern. Andererseits kann es hier durch schulische Überforderung zu einem kurzzeitigen Wiederaufflammen starker Trotzreaktionen kommen.

Wie reagieren Kleinkinder und Kinder in der Trotzphase?

Die Trotzphase ist ein natürlicher Entwicklungsschritt. Als Eltern oder begleitende Person ist es wichtig sich klarzumachen: Hier läuft nichts falsch! Das ist alles genauso, wie es sein soll! Gleichzeitig wird die Autonomiephase als große Herausforderung erlebt. Dieses Verhalten kannst du in der Autonomiephase deines Kindes beobachten:

  • Wutanfälle: Kinder in dieser Phase neigen dazu, bei Frustrationen oder wenn sie nicht bekommen, was sie wollen, Wutanfälle zu haben. Schreien, Weinen, auf den Boden werfen oder auch körperliche Gewalt wie Hauen, Beißen oder Schubsen sind hier keine Seltenheit.

  • Ablehnung von Hilfe: „Ich kann das schon allein!“, ist ein Satz, den Kindern in der Autonomiephase sehr häufig sagen, insofern sie es können. Sie möchten unabhängig sein und gelerntes und beobachtetes ausprobieren.

  • Große Gefühle: Kinder in der Trotzphase können sehr launisch sein. In einem Augenblick spielen sie ausgelassen im nächsten Moment sind sie verzweifelt und weinen bitterlich. Und umgekehrt.

  • Testen von Grenzen: Ein wichtiger Punkt ist das Testen von Grenzen. Was passiert, wenn ich mich widersetze? Wie wird reagiert, wenn ich mich „ungehörig“ verhalte? 

  • Bindung und Trennungsangst: Die neu gewonnene Autonomie und das Testen von Grenzen gehen einher mit Unsicherheit, Angst und dem starken Wunsch nach Bindung. 

 Warum ist die Autonomiephase so wichtig?

Obwohl sie herausfordernd sein kann, ist die Autonomiephase eine entscheidende Zeit für die Entwicklung des Kindes. In dieser Phase entwickeln Kinder ein Gefühl für ihre eigene Identität und Selbstwirksamkeit. Sie lernen, ihre Umwelt zu beeinflussen und eigene Entscheidungen zu treffen. Diese Erfahrungen sind wesentlich für die Entwicklung von Selbstvertrauen und Unabhängigkeit.

Wie können Eltern ihre Kinder in der Trotzphase begleiten?

Hand aufs Herz: Auch wenn wir wissen, wie wichtig die Autonomiephase für unsere Kinder ist und verstehen, dass die Hirnreife eine Regulierung von Emotionen nicht zulässt und dass unser Kind nicht anders kann, als so zu reagieren: Es ist so anstrengend!

Warum ist die Autonomiephase so anstrengend? 

Nun, häufig liegt das daran, dass wir selbst in unserer Autonomiephase vielleicht nicht kindgerecht begleitet wurden. Vielleicht waren deine Eltern streng und haben mit Strafen und Forderungen auf dich und deine Emotionsausbrüche reagiert. Vielleicht haben sie sich geschämt und dich getadelt oder dir gedroht oder vielleicht sogar die Nähe oder Liebe entzogen oder dir ein schlechtes Gewissen gemacht.

Glaubenssätze und Trigger – direkter Draht in die eigene Kindheit

Wir haben gelernt: „Das darf man nicht“, „Das macht man nicht“, „Sei still“, „Geh auf dein Zimmer“, „Mach nicht so ein Drama“, „Ist doch nichts passiert“, „Stell dich nicht so an“, „Schäm dich“, „Mach nicht so ein Theater“, „Du machst uns das Leben schwer“. Diese und ähnliche Sätze und Reaktionen auf unser kindliches Verhalten formen unsere inneren Glaubenssätze. Sätze, die sich tief in unserer Persönlichkeit verankert haben und zu unserer Identität geworden sind. 

Herausforderungen für Eltern in der Autonomiephase

Je nach Generation und Aufgeklärtheit haben heutige Eltern-Generationen solche Sätze und Reaktionen ihrer Eltern noch erlebt und werden deshalb heute von ihren eignen Kindern getriggert. Das bedeutet: Die großen Emotionen und das Verhalten unserer Kinder in der Autonomiephase wecken die intensiven Gefühle in uns, die nicht sein durften als wir Kinder waren. Das kann zu großem Stress führen. Denn einerseits sind wir heutzutage so aufgeklärt, dass wir wissen: „Wie unsere Eltern wollen wir es nicht machen!“. Aber eine Alternative Strategie fehlt auch häufig. 

Autonomiephase – was kann ich für mein Kind tun?

 Es gibt gute Strategien, mit denen die Autonomiephase der Kinder leichter werden kann:

  • Verstehe die Bedürfnisse deines Kindes: Oft steckt hinter einem Wunsch des Kindes mehr. Wenn dein Kind beispielsweise nach Süßigkeiten verlangt, könnte es in Wirklichkeit nach Aufmerksamkeit oder Unabhängigkeit suchen. Versuche, die zugrunde liegenden Bedürfnisse zu erkennen und darauf einzugehen.

  • Bleib bei dir und empathisch: Es ist wichtig, dass du als Mutter oder Vater authentisch bleibst. Zeige deinem Kind, dass du seine Gefühle ernst nimmst und verstehe, dass diese Phase ein normaler Teil seiner Entwicklung ist. Zeige Empathie und versuche, die Welt aus seiner Perspektive zu sehen. 

  • Balance zwischen Nachgeben und Grenzen setzen: Es gibt keine pauschale Antwort darauf, wie man in jeder Situation reagieren sollte. In manchen Fällen ist es wichtig, klare Grenzen zu setzen, besonders wenn es um die Sicherheit des Kindes geht. In anderen Situationen kann es sinnvoll sein, dem Wunsch des Kindes nachzugeben, um ihm ein Gefühl von Kontrolle und Unabhängigkeit zu geben.

  • Aushalten: Oft ist es das beste einfach nur da zu sein. Wenn dein Kind einen Wutanfall hat, bleib bei ihm. Setz dich in die Nähe, am besten auf Augenhöhe und sag, dass du da bist. Und lass die Gefühle sich frei entfalten. Greife nur ein, wenn dein Kind sich selbst oder andere gefährdet. Sobald der Wutanfall vorbei ist, kannst du dein Kind trösten. So lernt dein Kind, dass Gefühle kommen und gehen und dass du immer da bist. 

Autonomiephase – was kann ich für mich tun?

Viele Eltern und vor allem Mütter haben Schwierigkeiten neben den ganzen To-dos des Alltags mit Kind an sich zu denken. Selbstfürsorge ist hier aber etwas, das wir für auch für unsere Kinder tun. Denn ein zufriedener und ausgeruhter Elternteil kann sich liebevoller und geduldiger um die großen Themen der Kleinen kümmern. Das kannst du für dich tun:

  • Selbstfürsorge ist essenziell: Um empathisch sein zu können und gleichzeitig bei dir und deinen Bedürfnissen zu bleiben, ist es wichtig, dass du dir Auszeiten nimmst. Denn der alltägliche Stress und die Erschöpfung können deine Fähigkeit, empathisch und geduldig zu sein, beeinträchtigen. 

  • Hinterfrage deine Impulse: Nicht jeder Kampf ist es wert ausgefochten zu werden. Mach es dir so leicht wie möglich. Wenn der Impuls in dir aufsteigt etwas zu verbieten oder zu tadeln, frage dich selbst: „Warum will ich das jetzt verbieten? Was wäre die Konsequenz, wenn ich es zulasse“. Häufig stecken hinter unserem Untersagen nur unsere alten Muster. 

  • Atme tief durch: Dein Kind lernt von dir. Wenn du auf die heftigen Gefühle deines Kindes mit Hektik, Schimpfen oder Drohen reagierst, lernt dein Kind, dass mit großen Gefühlen so umgegangen wird. Zeig deinem Kind deine Ruhe und es wird schneller runterkommen. Das stärkt langfristig die Ressourcen und die Resilienz deines Kindes.

  • Suche Unterstützung und Rat: Du bist nicht allein in dieser Phase. Bitte Familie, Freunde oder andere Eltern im Kindergarten um Hilfe oder frag, wie sie mit spezifischen Situationen umgehen. Austausch mit anderen Eltern schafft ein Gemeinschaftsgefühl und bringt eine gewisse Leichtigkeit. 

  • Bücher über die Autonomiephase: Es gibt viele gute Ratgeber und Sachbücher zum Thema Autonomiephase bei Kindern. Viele haben praktische Tipps und andere setzten sich humorvoll mit dem Thema auseinander. Erfahrungsberichte anderer Eltern können Leichtigkeit und ein Wir-Gefühl erzeugen, wenn sonst kein Austausch mit anderen Eltern möglich ist.  

  • Holt euch professionelle therapeutische Unterstützung: Unsere Allywell Coaches bieten euch individuelle Unterstützung bei den unterschiedlichsten Herausforderungen im Familienleben. Unsere Expert:innen helfen euch mit Übungen und Gesprächen Herausforderungen zu meistern. 

Fazit

Die Autonomiephase ist eine herausfordernde, aber auch eine unglaublich bereichernde Zeit, in die Kinder und Eltern sich emotional entwickeln und wachsen können. Ihr habt die Möglichkeit, euer Kind in seiner Entwicklung zu einer selbstbewussten und unabhängigen Person zu unterstützen. Der Schlüssel liegt in der Selbstfürsorge, um ruhig, gelassen und mit Verständnis und Geduld auf die starken Bedürfnisse eures Kindes reagieren zu können.


Unsere psychologischen Mentorinnen stehen dir über unsere App AllyTime auch persönlich zur Seite.


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